Aus der Rechtsprechung
EuGH-Vorlage zu Reiseleistungen
In den letzten Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in mehreren Entscheidungen die Sonderregelung für Reiseleistungen auch auf den bloßen Weiterverkauf von Beherbergungs- oder Personenbeförderungsleistungen angewendet. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat ihm nun die Frage vorgelegt, ob zumindest in besonders gelagerten Fällen (sogenannten „Kaffeefahrten“) Ausnahmen statthaft seien.
Vorbemerkung
Der BFH bezieht sich in seinem Vorabentscheidungsersuchen auf die Richtlinie 77/388/EWG, die sogenannte Sechste Richtlinie, Vorgängerin der heutigen Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie 2006/112/EG (MwStSystRL). Dem Art. 26 der Sechsten Richtlinie entsprechen Art. 306 ff. MwStSystRL bzw. in Deutschland § 25 UStG. Der Anwendungsbereich dieser unionsrechtlich als „Sonderregelung für Reisebüros“ bezeichneten Regelung war und ist keineswegs nur auf Reisebüros oder Reiseveranstalter beschränkt, sondern gilt potenziell für alle Unternehmer, die von anderen Unternehmern eingekaufte (nicht mit eigenen Mitteln erbrachte) Reiseleistungen wie insbesondere Beherbergungs- und Personenbeförderungsleistungen im eigenen Namen erbringen. Die Sonderregelung sieht eine Margenbesteuerung vor – Besteuerungsgrundlage ist grundsätzlich die Differenz zwischen dem vom Leistungsempfänger für die Leistung des Unternehmers und dem vom Unternehmer für die Reisevorleistungen entrichteten Entgelt. In Hinblick auf die gewöhnlich grenzüberschreitende Tätigkeit der Reisebüros wird so eine Vereinfachung der Besteuerung erzielt.
Sachverhalt
Der Ausgangsfall betrifft eine Klägerin, die Ausflugsfahrten („Kaffeefahrten“) mit dem Ziel veranstaltete, den Absatz ihrer Waren zu fördern. Die Teilnehmer wurden mit Bussen zu touristisch interessanten Zielen befördert, wo sie (außerhalb der Geschäftsräume der Klägerin) Verkaufsveranstaltungen der Klägerin besuchten und gegen gesondertes Entgelt Waren erwerben konnten. Die Klägerin bediente sich für die Beförderung der Teilnehmer diverser Busunternehmen und erhob von den Teilnehmern Fahrtgelder, die aber die Buskosten nur etwa zu 60 Prozent deckten. Außerdem erhielten die Teilnehmer im Rahmen der Ausflugsfahrten ohne gesondertes Entgelt Verpflegung und konnten an einem touristischen Programm (z. B. Schiffsausflugsfahrten) teilnehmen. Die Klägerin beantragte ohne Erfolg den vollen Vorsteuerabzug aus den Buskosten.
Entscheidung
Der BFH legte dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen mit drei Fragen vor:
Die erste Frage lautet im Ergebnis, ob es sich bei „Kaffeefahrten“ (der BFH zieht zur Definition die Vorschrift einer älteren verbraucherschutzrechtlichen EU-Richtlinie heran) überhaupt um einen Umsatz im Sinn der Sonderregelung handle, der den Leistungen von Reisebüros oder Reiseveranstaltern im üblichen Wortsinn gleichartig sei und somit im Wettbewerb zu diesen stehe. Wie der BFH mitteilt, unterscheidet sich die Leistung der Klägerin von den durch Reisebüros und Reiseveranstalter erbrachten Reiseleistungen. Reisebüros und Reiseveranstalter wollten typischerweise mit den Reiseleistungen als solche Gewinne erzielen – anders als die Klägerin, die nicht mit den Ausflugsfahrten als solchen, sondern mit den Warenumsätzen Gewinne erzielen wollte, die auch die Verluste aus den Ausflugsfahrten abdeckten. Das könne gegen einen Wettbewerb mit Reisebüros sprechen. Es fehle auch an weitergehenden Leistungselementen wie etwa „Unterrichtung und Beratung“. Indessen lägen andersartige, nicht gegen gesondertes Entgelt ausgeführte Leistungselemente vor, wie sie bei einer Kaffeefahrt typischerweise hinzutreten (Verpflegung, Schiffausflugsfahrten usw.). Der BFH führt auch Gegenargumente an: Die Beförderungsleistung an sich unterscheide sich nicht von einer sonstigen Busausflugsfahrt, wobei der Zweck der Reise nach der Rechtsprechung des EuGH für die Anwendung der Sonderregelung irrelevant sei.
Mit der zweiten Frage erkundigt sich der BFH, ob eine Reiseleistung im Sinne des Art. 26 der Sechsten Richtlinie auch im Fall einer negativen Marge vorliegt. Diese Frage stellte der BFH für den Fall, dass der EuGH als Antwort auf die erste Frage die Leistungen der Klägerin als Reiseleistungen einstufte. Mit der Sonderregelung werde ein vereinfachter Abzug der Vorsteuer bezweckt. Besteuert werde nur die Marge, die der EuGH selbst als Gewinnmarge bezeichne. Im Ergebnis komme es damit zu einem Abzug der Mehrwertsteuer auf die bezogenen Eingangsleistungen. Jedoch komme es im Fall einer negativen Marge (wenn die Kosten für die Reisevorleistungen das vom Leistungsempfänger entrichtete Entgelt übersteigen) nicht zu einem entsprechenden Ausgleich – und das, obwohl es bei Anwendung der allgemeinen Besteuerungsregelungen im Prinzip zur Vorsteuererstattung an den Steuerpflichtigen käme. Allerdings äußerte der BFH selbst Zweifel, ob der unternehmerische Erfolg, der zu einer Gewinnmarge wie auch zu einer negativen Marge führen könne, über die Anwendung der Sonderregelung entscheiden könne.
Für den Fall, dass auch eine negative Marge an der Qualifizierung als Reiseleistung nichts ändert, stellt der BFH die dritte Frage, ob eine negative Marge zu einer „negativen Steuer“, das heißt zu einer Erstattung an den Steuerpflichtigen führen könne. So werde ein dem allgemeinen Besteuerungsverfahren vergleichbares Ergebnis erzielt. Dieses Ergebnis könne im Vergleich zur allgemeinen Regelung bei unterschiedlichen Steuersätzen für die Reiseleistung und die Reisevorleistung unterschiedlich ausfallen, was im Rahmen des Vereinfachungszwecks und des Zwecks der ausgewogenen Verteilung der Mehrwertsteuereinnahmen zwischen den Mitgliedsstaaten jedoch hinzunehmen sein könne. Für eine solche Lösung könne auch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sprechen. Denn ohne eine Negativsteuer würden Steuerpflichtige mit Vorsteuerbeträgen für Leistungen, die sie für ihr Unternehmen bezogen haben, wirtschaftlich belastet, weil die auf die Reisevorleistungen gezahlte Vorsteuer zu einem Kostenfaktor würde. Gegen die Erstattung einer Negativsteuer könne allerdings sprechen, dass bei grenzüberschreitenden Fällen eine Vergütung negativer Umsatzsteuer wirtschaftlich im Ergebnis zu einer Erstattung ausländischer Vorsteuerbeträge durch den Staat führen könne, in dem die Reiseleistung auf der Ausgangsseite steuerbar sei. Das könne einer ausgewogenen Verteilung der Mehrwertsteuereinnahmen zwischen den Mitgliedsstaaten abträglich sein.
Hinweis
Alle drei aufeinander aufbauenden Fragen des BFH sind für die Besteuerung der Reiseleistungen von großem Interesse. Von herausragendem Interesse erscheint jedoch die erste Frage, mit der der EuGH sich in jedem Fall zu befassen haben wird. Hier erkundigt sich der BFH, ob Unternehmer, die mit ihren Beherbergungs- und Beförderungsleistungen nicht in Konkurrenz zu Reisebüros treten, die Sonderregelung nicht anzuwenden haben. Sollte der EuGH das bejahen, könnte für manche Sachverhalte eine Margenbesteuerung vermieden werden.
Welche Sachverhalte das sein könnten, ist gegenwärtig kaum zu sagen: In dem bereits im Jahr 2012 veröffentlichten Beschluss „Star Coaches“ hatte der EuGH über einen Busunternehmer zu entscheiden, der Beförderungsleistungen gegenüber Reisebüros unter Einsatz von Subunternehmern erbrachte. In diesem Fall sollten keine Reiseleistungen vorliegen, weil "die Leistungen von Star Coaches und die Leistungen eines Reisebüros oder Reiseveranstalters keineswegs überein[stimmten]". Dem steht aber der Umstand gegenüber, dass der EuGH in den vergangenen Jahren mehrfach in Entscheidungen wie „Alpenchalet Resorts“, dem „Hotelkonsolidierer-Fall“ und erst jüngst „Dragoram Tour“ (siehe Ausgabe 07 unseres Umsatzsteuer-Newsletters vom Juli 2024) bekräftigt hat, dass Beherbergungs- und Personenbeförderungsleistung der Sonderregelung für Reisebüros unterfallen, ob sie nun mit Nebenleistungen wie etwa der Beratung oder der Organisation der Reise einhergehen oder nicht.
Davon abgesehen stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht die Sonderregelung, die steuerliche Pflichten der Unternehmer quer durch die EU vermeiden soll, angesichts zwischenzeitlich eingeführter Verfahren und Vereinfachungen wie etwa dem One Stop Shop (vgl. §18j UStG) überholt ist. Darüber wäre aber nicht der EuGH zur Entscheidung berufen, sondern der Unionsgesetzgeber.
Fundstellen
BFH V R 30/23, EuGH-Vorlage vom 20. Juni 2024, am EuGH geführt unter dem Az. C-565/24 „P-GmbH & Co. KG“;
EuGH C-220/11 „Star Coaches“, Beschluss vom 1. März 2012; C-552/17 „Alpenchalets Resorts”, Urteil vom 19. Dezember 2018; C-108/22 „Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej“ („Hotelkonsolidierer-Fall“), Urteil vom 29. Juni 2023; C-763/23 „Dragoram Tour“, Beschluss vom 25. Juni 2024 (nur in französischer und rumänischer Sprache veröffentlicht, ein deutscher Leitsatz ist in ABl. EU C/2024/4707 vom 5. August 2024 zu finden)
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