Vom Europäischen Gerichtshof
Steuerschuld bei unautorisierten Rechnungen für fiktive Lieferungen
Im Fall der Rechnungserstellung durch Arbeitnehmer ohne Zustimmung und Wissen des Unternehmers (der als Aussteller aus der Rechnung hervorgeht) kommt nicht der Unternehmer, sondern der Arbeitnehmer als Schuldner der ausgewiesenen Mehrwertsteuer infrage − es sei denn, der Unternehmer hat nicht die zumutbare Sorgfalt zur Überwachung des Handelns des Arbeitnehmers an den Tag gelegt.
Sachverhalt
Die Klägerin betrieb eine Tankstelle. Im Zuge einer Steuerprüfung stellte sich heraus, dass zahlreiche Rechnungen mit Steuerausweis ausgestellt worden waren, die die Klägerin als Ausstellerin auswiesen und ihre Identifikationsnummer enthielten, denen jedoch keine tatsächlichen Warenverkäufe zugrunde lagen. Diese Rechnungen waren in der Buchführung der Klägerin nicht erfasst und die ausgewiesene Mehrwertsteuer war weder erklärt noch an den Fiskus abgeführt worden. Die Buchung erfolgte auf Basis echter Zahlungsbelege aus tatsächlichen Umsätzen mit anderen Abnehmern. Die angestellte Leiterin der Tankstelle (PK) hatte die Rechnungen ohne Zustimmung und Wissen der Geschäftsführung der Klägerin an Rechnungsempfänger verkauft, welche aus diesen Rechnungen den Vorsteuerabzug erschlichen. Die falschen Rechnungen waren in einem anderen Format erstellt als die echten Rechnungen. Nur PK hatte im System auf die streitigen Rechnungen Zugriff. PK wurde aufgrund dieser Feststellungen wegen Fehlverhaltens entlassen. Das Finanzamt forderte die ausgewiesene Steuer von der Klägerin, mit dem Argument, dass diese nicht die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt habe, um die Ausstellung der streitigen Rechnungen zu verhindern.
Entscheidung
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte fest, dass nach Art. 203 MwStSystRL jede Person, die die Mehrwertsteuer in einer Rechnung ausweist, die in dieser Rechnung ausgewiesene Steuer schuldet. Die Regelung wende sich nicht unbedingt nur an Unternehmer, wie die Formulierung „jede Person“ zeige. Zur Frage, welche Person gemeint sei, kam er zum Schluss, dass der nur scheinbare Aussteller nicht als die „Person“ im Sinne der Vorschrift anzusehen sei, wenn er gutgläubig sei und die Finanzverwaltung die Identität des tatsächlichen Rechnungsausstellers kenne.
Allerdings stand hier die Gutgläubigkeit des Unternehmers in Zweifel. Nach Angaben (auch) des Vorlagegerichts hatte er nicht die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt. Der EuGH wandte hier die von ihm für Mehrwertsteuerbetrug in der Leistungskette entwickelte Missbrauchsrechtsprechung an, wenn er auch einräumt, dass sie „unter Umständen entwickelt wurde, die sich zugegebenermaßen von denen des Ausgangsverfahrens unterscheiden“. Demnach verstoße es nicht gegen das Unionsrecht, wenn von einem Wirtschaftsteilnehmer gefordert werde, dass er alle Maßnahmen ergreife, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden könnten, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einem Mehrwertsteuerbetrug führe.
Dieser Rechtsprechung zufolge könne ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer bei Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung verpflichtet sein, über einen potenziellen Lieferanten Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen. Eine ähnliche Sorgfaltspflicht müsse hier gelten, insbesondere wenn der Arbeitnehmer dafür zuständig sei, im Namen und auf Rechnung seines Arbeitgebers Mehrwertsteuerrechnungen auszustellen. Ein mehrwertsteuerpflichtiger Arbeitgeber könne nicht als gutgläubig angesehen werden, wenn er nicht die zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt habe, um das Handeln seines Arbeitnehmers zu überwachen und dadurch zu verhindern, dass dieser die Mehrwertsteuer-Identifikationsdaten des Arbeitgebers für die Ausstellung falscher Rechnungen zu betrügerischen Zwecken verwenden könne. Dann könne ihm das betrügerische Handeln seines Arbeitnehmers zugerechnet werden, somit sei er dann als die Person anzusehen, die im Sinne der Vorschrift die Mehrwertsteuer ausgewiesen hat. Das zu prüfen sei Sache der Finanzverwaltung oder des Vorlagegerichts.
Hinweis
Mit diesem Urteil entwickelt der EuGH einen neuen Unterfall zu seiner langjährigen Missbrauchs-rechtsprechung (die als solche in Deutschland mittlerweile in § 25f UStG kodifiziert ist). Hat der Steuerpflichtige die zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt, um das Handeln des Arbeitnehmers zu überwachen, schuldet im Ergebnis der Arbeitnehmer (hier die PK) die Steuer. Unklar ist, was die Bemerkung des EuGH zu besagen hat, die Finanzverwaltung müsse die Identität der Person kennen, die die falsche Rechnung tatsächlich ausgestellt hat.
Was die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Versäumnisse des Arbeitgebers angeht, führte die polnische Finanzverwaltung aus, dass ihrer Auffassung nach die Arbeitnehmerin PK im IT-System der Klägerin zu viel Spielraum genossen habe und dass der Geschäftsführer das betrügerische Handeln der Angestellten erst anlässlich der von der Finanzverwaltung durchgeführten Kontrolle aufgedeckt habe, sodass die Finanzverwaltung zur Auffassung einer fehlenden angemessenen Aufsicht und Organisation gelangt war. Dazu wird ausgeführt, dass offenbar die genauen Zuständigkeiten der PK nicht schriftlich festgelegt gewesen seien – an anderer Stelle heißt es jedoch, dass sie für die Rechnungserteilung zuständig gewesen sei. Darüber, ob diese Vorwürfe nach seiner Auffassung eine Sorgfaltspflichtverletzung begründeten, äußert sich der EuGH nicht abschließend. Künftige Rechtsprechung dürfte näher auszuführen haben, welche Sorgfaltspflichten den Unternehmer in Sachverhalten wie dem Streitfall treffen, um eine Zurechnung der Steuerschuld im Sinne des § 14c UStG zu vermeiden, oder welche Regelungen oder Grundsätze hier entsprechend anzuwenden sein könnten.
Fundstellen
EuGH C-442/22 „P sp. z o.o.“ vom 30. Januar 2024 (beim EuGH geführt unter „Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Lublinie“)
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