Aus der Rechtsprechung
Vorsteuerabzug bei Leistung durch einen Istversteuerer
In seinem Urteil „Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße“ hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) vor fast zwei Jahren mitgeteilt, dass der Vorsteuerabzug aus Rechnungen eines Istversteuerers (erst) bei Zahlung statthaft ist. Nun hat der BFH sich diesen Grundsatz zu eigen gemacht und angedeutet, dass das nationale Recht in diesem Sinne richtlinienkonform auslegbar ist. Das könnte in vielen Fällen die Gefahr eines zu frühen Vorsteuerabzugs durch den Leistungsempfänger mit sich führen.
Sachverhalt
Das Finanzamt führte beim istversteuernden Kläger (§ 20 UStG) eine Außenprüfung durch. Dabei wurde festgestellt, dass der Kläger Geschäftsführer mehrerer Firmen war, denen er Leistungen mit Steuerausweis erbracht hatte, die diese Firmen aber über mehrere Jahre hinweg nicht bezahlt hatten. In den Rechnungen waren weder Zahlungsfristen genannt, noch Fälligkeiten ausgewiesen. Die Prüferin war der Auffassung, dass ein zeitnaher Zufluss der Entgelte für die Leistungen beim Kläger nicht angestrebt worden sei, sondern gezielt vermieden habe werden sollen. Daraufhin widerrief das Finanzamt die Genehmigung zur Istversteuerung mit der Begründung, es sei zu vermuten, dass die Gestattung missbraucht werde. Das erstinstanzliche Finanzgericht (FG) bestätigte die Auffassung des Finanzamts: Eine Gefährdung des Steueraufkommens sei gegeben, das Finanzamt habe ermessensfehlerfrei die erteilte Erlaubnis zur Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten widerrufen.
Entscheidung
Nach Meinung des Bundesfinanzhofs (BFH) war der Widerruf unzulässig. Das Finanzamt könne sich nicht auf eine Gefährdung des Steueraufkommens berufen, weil den Leistungsempfängern des Klägers der Vorsteuerabzug nach Unionsrecht erst zustehe, wenn diese die Umsatzsteuer an den Kläger gezahlt hätten. Der Widerruf sei aber unter der unionsrechtlich unzutreffenden Prämisse ergangen, dass den Leistungsempfängern bereits bei Leistungsbezug vom Kläger der sofortige Vorsteuerabzug zustehe. Nach dem Unionsrecht könne es nicht zu dem behaupteten Missbrauch kommen, ein zeitliches Auseinanderfallen, das durch den Widerruf der Gestattung gegenüber dem Kläger verhindert werden solle, sei unionsrechtlich nicht möglich. Ob dieses Ergebnis im Besteuerungsverfahren der Leistungsempfänger durch eine richtlinienkonforme Auslegung deutschen Rechts gefunden werden könne oder der Gesetzgeber dazu zunächst das nationale Recht anpassen müsse, bedürfe im Streitfall keiner Entscheidung.
Sollte aber die Entstehung der Umsatzsteuer und des Rechts auf Vorsteuerabzug tatsächlich zeitlich auseinanderfallen, beruhe das nicht auf dem Verhalten des Klägers, sondern – wenn überhaupt – auf der unzutreffenden Umsetzung des Unionsrechts in Deutschland. Wenn ein leistender Unternehmer eine gesetzlich geschaffene Möglichkeit, unter bestimmten, vom Gesetzgeber definierten Voraussetzungen die Entstehung der Steuer hinauszuschieben, in Anspruch nehme, sei das seitens des Leistenden nicht missbräuchlich und führe nicht zu einer Gefährdung des Steueraufkommens. Ein Vorsteuerabzug der Leistungsempfänger bei Nichtvereinnahmung der Umsatzsteuer durch den Kläger sei dann durch Deutschland hinzunehmen.
Obgleich der BFH mitteilt, dass die Frage im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden sei, führt er aus: Eine Vorschrift, die mit der Regelung des Art. 167 MwStSystRL vergleichbar sei („Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht“), enthalte das nationale Recht bisher nicht ausdrücklich. Bislang sei geregelt, dass der Unternehmer unter anderem die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen abziehen könne, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden ist. Für die Auslegung dieser Vorschriften könne jedoch bedeutsam sein, dass aufgrund der Rechtsprechung des EuGH nicht jeder, sondern nur der „geschuldete“ Steuerbetrag als Vorsteuer abziehbar sei. Diese Auslegung, die das frühere Verständnis des § 15 UStG einschränkte, könnte auch eine zeitliche Komponente beinhalten: Der Begriff „geschuldet“ im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG könnte im Lichte des EuGH-Urteils „Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße“ sowie des Art. 167 MwStSystRL dahin gehend zu verstehen sein, dass die Steuer schon geschuldet werden muss, um als Vorsteuer abgezogen werden zu können.
Hinweis
Der Regelfall der Besteuerung im Umsatzsteuerrecht ist die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten: Der Unternehmer schuldet die Ausgangsumsatzsteuer (zum eist) bereits dann, wenn er die Leistung erbracht hat, auch wenn das mitunter bedeutet, dass er die Steuer über längere Zeiträume vorfinanzieren muss, wenn sein Leistungsempfänger die Rechnung – berechtigt oder unberechtigt – zunächst nicht zahlt (Sollversteuerung). Im Fall der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Istversteuerung) ist der Unternehmer in der bequemeren Lage, die Steuer erst dann zu schulden, wenn sein Leistungsempfänger seine Rechnung begleicht.
Bislang konnte in der Praxis die Vorsteuer im Wesentlichen unabhängig davon abgezogen werden, ob die vom leistenden Unternehmer ausgestellte Rechnung gezahlt wurde oder nicht – unabhängig davon, ob der leistende Unternehmer ein Sollversteuerer oder ein Istversteuerer war. Dies wurde im vergangenen Jahr im EuGH-Urteil „Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße“ für Fälle der Istversteuerung infrage gestellt. Hier verwies der EuGH auf Art. 167 MwStSystRL, der die Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts an die Steuerentstehung koppelt. (Vom Vorsteuerabzugsrecht als solchem ist das Recht auf Ausübung des Vorsteuerabzugsrecht zu unterscheiden, das vor allem den Besitz einer ordnungsgemäßen Rechnung voraussetzt.) Gewöhnlich warten das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und der Gesetzgeber bei EuGH-Entscheidungen die Folgeentscheidung ab. Das vorliegende Urteil ist jedoch kein direktes Folgeurteil im Verfahren, in dem das FG Hamburg dem EuGH die Vorlagefragen im Fall „Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße“ vorlegte. Was aus diesem Verfahren wurde, ist unklar. Der BFH entscheidet hier nicht abschließend, er lässt die Möglichkeit offen, dass die Leistungsempfänger zulässigerweise die in Rechnung gestellte Steuer als Vorsteuer abzogen, ohne den leistenden Unternehmer bezahlt zu haben.
Die genannte Praxis des sofortigen Vorsteuerabzugs auch im Fall des Leistungsbezugs von Istversteuerern ist soweit ersichtlich im Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) nirgendwo ausdrücklich geregelt. Sollte die Finanzverwaltung die vom BFH im Urteil – auch wenn angabegemäß in Form eines Obiter Dictum – erwähnte Auslegung aufgreifen, dass der Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf „gesetzlich geschuldete Steuer“ auch eine zeitliche Komponente zukommt, so würde Vorsteuer in zahlreichen Fällen zu früh abgezogen werden, in vielen Fällen wohl zinswirksam. Ob das BMF eine Übergangsregelung gewähren würde, muss sich weisen.
Istversteuernde Unternehmer sind keine Seltenheit: Darunter fallen infolge eines Verweises auf das Einkommensteuergesetz nicht nur Freiberufler wie Rechtsanwälte, Ingenieure, Journalisten oder Architekten, sondern zum Beispiel (seit Anfang 2023) auch vor allem juristische Personen des öffentlichen Rechts mit kameraler Buchführung. Derzeit können Leistungsempfänger nicht hinlänglich sicher erkennen, ob ein Unternehmer ein Istversteuerer ist oder nicht: Deutschland hat nämlich auch die Richtlinienregelung des Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL nicht umgesetzt, wonach Istversteuerer in der Rechnung die Angabe „Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten“ zu vermerken haben.
Fundstellen
BFH XI R 5/21, Urteil vom 12. Juli 2023;
EuGH C-9/20 „Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße“, Urteil vom 10. Februar 2022 (Vorlage des FG Hamburg 1 K 337/17, Vorlagebeschluss vom 10. Dezember 2019)
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