Aus der Rechtsprechung
Umsatzsteuer und Vertrauensschutz
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat sich mit der Frage befasst, welche Bedeutung den Umsatzsteuervoranmeldungen in Hinblick auf den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO zukommt – und dabei im Ergebnis für viele Fälle die Wirkung des Vertrauensschutzes zeitlich erheblich vorverlegt. Das kann sich im Einzelfall positiv auswirken, wenn eine Verwaltungsvorschrift durch den BFH als rechtswidrig bezeichnet wurde. Das Urteil ist weit über die sogenannten Bauträgerfälle hinaus von Interesse.
Vorgeschichte
Im November 2013 veröffentlichte der BFH sein Urteil in der Rechtssache V R 37/10, in dem er den Anwendungsbereich des Übergangs der Steuerschuldnerschaft für Bauleistungen (§ 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG) einschränkte. Daraufhin verlangten zahlreiche – oft nicht vorsteuerabzugsberechtigte – Bauträger die von ihnen entrichtete Steuer vom Finanzamt zurück, weil aus dem Urteil folgte, dass die betreffende Steuerschuld nicht auf sie übergegangen war. Die Finanzbehörden versuchten in solchen Fällen, Steuernachzahlungen in entsprechender Höhe von den Bauunternehmern nachzuerheben. In zahlreichen Fällen stand dem aber die Vertrauensschutzregelung des § 176 Abs. 2 AO entgegen. Diese Vorschrift sieht (soweit hier relevant) vor: Bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids darf nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass zum Beispiel eine allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) von einem obersten Gerichtshof des Bundes (wie dem BFH) als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist.
Um befürchteten Steuerausfällen zuvorzukommen, fügte der Gesetzgeber § 27 Abs. 19 in das Umsatzsteuergesetz (UStG) ein: Die Bauunternehmer konnten unter bestimmten weiteren Voraussetzungen einer Nachforderung damit begegnen, dass sie einen ihnen neben dem Nettoentgelt gegebenenfalls zustehenden zivilrechtlichen Umsatzsteuer-Nachforderungsanspruch gegen den Bauträger an die Finanzbehörden abtraten. Diese Vorschrift war eine eigene Änderungsvorschrift für die Steuerfestsetzung des leistenden Unternehmers, der § 176 AO nicht entgegenstand.
Sachverhalt
Die Klägerin war Organträgerin einer GmbH. Sie erbrachte gegenüber einer Bauträgerin Bauleistungen ohne gesonderten Ausweis der Umsatzsteuer, da die Vertragspartner von der Steuerschuldnerschaft der Bauträgerin gemäß § 13b UStG ausgingen. Die Klägerin erfasste die an die Bauträgerin erbrachten Leistungen daher nicht in ihren monatlich abgegebenen Voranmeldungen.
Über das Vermögen der GmbH wurde im Januar 2013 das Insolvenzverfahren eröffnet. Im April 2014 reichte die Klägerin eine Umsatzsteuerjahreserklärung für das Jahr 2012 ein, in der sie wiederum von einer Steuerschuldnerschaft der Bauträgerin ausging. Die Bauträgerin jedoch beantragte im Jahr 2015 aufgrund des genannten BFH-Urteils die Erstattung der von ihr seinerzeit entrichteten Umsatzsteuer. Daher setzte das Finanzamt gegenüber der Klägerin als Organträgerin die Umsatzsteuer für das Streitjahr entsprechend höher fest. Auf ein Angebot der Abtretung eines Ausgleichsanspruchs gegen die GmbH, den die Klägerin auch zur Insolvenztabelle anmeldete, ging das Finanzamt nicht ein.
Entscheidung
Der BFH gab der Klägerin recht: Das Finanzamt sei zu einer Änderung zulasten der Klägerin nicht berechtigt gewesen. Zum einen verhindere die Vertrauensschutzregelung des § 176 Abs. 2 AO eine Änderung des Umsatzsteuerjahresbescheids. Zum anderen lägen die Voraussetzungen von § 27 Abs. 19 UStG nicht vor. Der Vertrauensschutz nach § 176 AO greife auch bei formell bestandskräftigen Bescheiden ein, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen sind und demgemäß für Steueranmeldungen, die nach § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehen. (Sowohl Umsatzsteuervoranmeldungen als auch Umsatzsteuerjahreserklärungen sind Steueranmeldungen.)
Der Anwendung von § 176 Abs. 2 AO stehe nicht entgegen, dass der BFH die betreffende Verwaltungsauffassung bereits vor der ersten Umsatzsteuerjahresfestsetzung vom April 2014 als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet habe. Zwar müsse dies nach dem Erlass des ursprünglichen Bescheids, aber vor dem Erlass des Änderungsbescheids erfolgt sein. Lägen allerdings bereits vor dem Umsatzsteuerjahresbescheid Voranmeldungsfestsetzungen vor, könnten diese für die Prüfung, ob einer Änderung einer Steuerfestsetzung der Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO entgegensteht, nicht außer Betracht bleiben. § 176 AO schütze nicht das Vertrauen in die Gesetzgebung oder in die höchstrichterliche Rechtsprechung, sondern in die Bestandskraft der Steuerfestsetzung. Für die Prüfung, zu welchem Zeitpunkt die in § 176 Abs. 2 AO genannte allgemeine Verwaltungsvorschrift als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet wurde, sei auf die jeweilige Voranmeldungsfestsetzung abzustellen. Der BFH ließ die Frage offen, ob das Finanzamt, hätte es das Angebot auf Abtretung eines „Erstattungsanspruchs“ gegen die Organgesellschaft angenommen, änderungsbefugt gewesen wäre.
Eine Änderungsbefugnis habe sich auch nicht aus § 27 Abs. 19 UStG ergeben. Eine Umsatzsteuerfestsetzung könne nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG gegenüber dem leistenden Unternehmer nur dann geändert werden, wenn ihm ein abtretbarer Anspruch auf Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer gegen den Leistungsempfänger zusteht. Bei einer Organgesellschaft sei dafür im Grundsatz auf den Organträger abzustellen, bei dem davon auszugehen sei, dass er im Rahmen der Organschaft auf eine Anspruchsabtretung durch die Organgesellschaft hinwirken könne. Diese Möglichkeit bestehe aber nicht bei einer zwischenzeitlichen Insolvenzeröffnung über das Vermögen der Organgesellschaft. Unabhängig davon, dass es hierdurch zur Beendigung der Organschaft komme, könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Insolvenzverwalter einen werthaltigen, der Masse zustehenden Anspruch (gegen den Bauträger auf Zahlung der Umsatzsteuer) durch Abtretung aufgibt.
Hinweis
§ 176 AO soll nur vor einer Änderung der konkreten Steuerfestsetzung, nicht aber vor einer neuen Steuerfestsetzung schützen. Bislang herrschte die Auffassung vor, dass die Umsatzsteuerjahreserklärung als erstmalige Steuerfestsetzung anzusehen sei. Laut BFH kann für den Vertrauensschutz aber bereits auf die Umsatzsteuervoranmeldung abzustellen sein. Weil die Umsatzsteuervoranmeldung gewöhnlich zeitnah, die Jahreserklärung unter Umständen aber sehr viel später abgegeben wird, kann die zeitliche Wirkung des Vertrauensschutzes weitaus früher greifen. Das kann ohne Weiteres auch Urteile des BFH zu völlig anderen umsatzsteuerlichen Fragen als Bauträgerfällen betreffen. Dies betrifft insbesondere Sachverhalte, in denen die Finanzverwaltung keine Übergangsregelung gewährt, sondern eine neue Rechtslage auf alle offenen Fälle anwenden möchte. Davon abgesehen erwähnt der BFH in seinem Urteil neben der Vorschrift des § 176 AO einen eigenen unionsrechtlichen Vertrauensschutz.
Solange die Verwaltung sich dieser Auffassung nicht angeschlossen hat, dürfte es sich auch weiterhin empfehlen, Umsatzsteuer-Jahreserklärungen so früh wie möglich einzureichen, um Rechtsprechungsänderungen zuvorzukommen. Zudem sind dem Urteil Grenzen gesetzt: Wie der BFH mitteilt, ist § 176 AO zum Beispiel beim Erlass eines Erstbescheids nicht anwendbar, der dann vorliege, wenn der Steuerpflichtige weder Umsatzsteuervoranmeldungen noch eine Jahressteuererklärung eingereicht, sondern die Finanzbehörde von sich aus erstmals einen Steuerbescheid erlassen habe. Außerdem weist der BFH darauf hin, dass er nicht zu entscheiden gehabt habe, ob der Umsatzsteuerjahresbescheid zu einer Änderung von Voranmeldungsfestsetzungen führt und ob bei Annahme einer derartigen Änderung § 176 AO anzuwenden sein könnte.
Fundstelle
BFH V R 5/21, Urteil vom 6. Juli 2023; V R 37/10, Urteil vom 22. August 2013
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